BAG, 19.07.2012 - 2 AZR 782/11: Abmahnung verfällt nicht automatisch - bloßer Zeitablauf egal
In der Entscheidung vom 19.07.2012 hatte der 2. Senat des Bundesarbeitsgerichts (BAG) der Frage nachzugehen, ob und - wenn ja - wann eine vom Arbeitgeber gegenüber dem Arbeitnehmer ausgesprochene Abmahnung wegen Zeitablaufs aus der Personalakte zu entfernen ist.
Im entschiedenen Fall stritten die Klägerin, eine Verwaltungsfachangestellte, und die Beklagte als Trägerin einer Volkshochschule um die Entfernung einer Abmahnung.
Das Arbeitsverhältnis der Klägerin bestand seit dem Jahre 2000. Zum 01.12.2006 wurde ihr die Funktion einer Haushaltssachbearbeiterin der Volkshochschule übertragen. Sie war verantwortlich für die Zahlstelle des Planetariums.
Anfang März 2007 wurden Teilaufgaben (Ein- und Auszahlungsanordnungen für das Planetarium) zunächst auf ihre Vertreterin übertragen; später sollte die Vertreterin diesbezüglich die Hauptverantwortlichkeit übernehmen und die Klägerin selbst nur noch als deren Vertreterin fungieren.
(Symbolbild)
Im Jui 2007 stand ein Urlaub der Klägerin bevor. Die Klägerin übertrug die Zahlstelle daher dem Leiter der Volkshochschule. Allerdings übergab sie das Kassenbuch nicht im Original, sondern nur eine Zweitschrift. Der Vorgesetze beanstandete dies wohl zunächst nicht. Bei einer Kontrolle der Kreiskasse äußerte die Klägerin dann, dass sie das Originalbuch im April 2007 an ihre Vertreterin/designierte Hauptverantwortliche übergeben habe und es selbst, da sie ja nur noch als deren Vertreterin fungieren sollte, nicht zurückerhalten habe.
Das Originalkassenbuch war nicht auffindbar. Im April 2008 wurde die Klägerin schließlich diesbezüglich abgemahnt, wogegen sie Klage erhob.
Die Klage war vor dem Arbeitsgericht (ArbG Eisenach, Urteil v. 03.09.2009, 4 Ca 868/08) und dem Landesarbeitsgericht (LAG Thüringen, Urteil v. 23.11.2010, 7 Sa 427/09) erfolgreich.
Das LAG hatte angenommen, dass eine Abmahnung nach längerem einwandfreien Verhalten des Arbeitnehmers ihre Wirkung verlieren könne, wofür die Umstände des Einzelfalls maßgeblich seien. Daher sei im vorliegenden Fall die Abmahnung aus der Personalakte zu entfernen, obwohl das LAG zugleich davon überzeugt war, dass der Verlust des Originalkassenbuchs in die Zeit der Verantwortlichket der Klägerin falle.
Insofern ist hervorzuheben, dass zum Zeitpunkt der Entscheidung des LAG Thüringen der der Abmahnung zugrundeliegende Vorfall bereits ca. 3,5 Jahre zurücklag. In der Praxis war insofern vielfach das Verständnis vorherrschend, dass Abmahnungen nach ca. 2-3 Jahren gleichsam "verfallen".
Auf Revision der Arbeitgeberin zum BAG hob dieses aber die Vorentscheidung des ebenfalls in Erfurt - und noch dazu in Sichtweite - beheimateten LAG auf und verwies den Rechtsstreit zur weiteren Aufklärung an dieses zurück.
Das BAG führte aus (Rdnr. 18):
"Ein Arbeitnehmer kann [...] nur in Ausnahmefällen die Entfernung auch solcher Aktenvorgänge verlangen, die auf einer richtigen Sachverhaltsdarstellung beruhen."
Ein solcher Ausnahmefall würde voraussetzen, dass der beurkundete Vorgang
"rechtlich bedeutungslos"
geworden sei (Rdnr. 18).
An diese rechtliche Bedeutungslosigkeit stellt das BAG strenge Anforderungen (Rdnr. 21):
"Der Arbeitnehmer kann die Entfernung einer zu Recht erteilten Abmahnung aus seiner Personalakte nur dann verlangen, wenn sie für die Durchführung des Arbeitsverhältnisses unter keinem rechtlichen Aspekt mehr eine Rolle spielen kann. Das durch die Abmahnung gerügte Verhalten muss für das Arbeitsverhältnis in jeder Hinsicht rechtlich bedeutungslos geworden sein. Das ist nicht der Fall, solange eine zu Recht erteilte Abmahnung etwa für eine zukünftige Entscheidung über eine Versetzung oder Beförderung und die entsprechende Eignung des Arbeitnehmers, für die spätere Beurteilung von Führung und Leistung in einem Zeugnis oder für die im Zusammenhang mit einer möglichen späteren Kündigung erforderlich werdende Interessenabwägung von Bedeutung sein kann. Darüber hinaus kann es im berechtigten Interesse des Arbeitgebers liegen, die Erteilung einer Rüge im Sinne einer Klarstellung der arbeitsvertraglichen Pflichten weiterhin dokumentieren zu können. Demgegenüber verlangen die schutzwürdigen Interessen des Arbeitnehmers nicht, einen Anspruch auf Entfernung einer zu Recht erteilten Abmahnung schon dann zu bejahen, wenn diese zwar ihre Warnfunktion verloren hat, ein Dokumentationsinteresse des Arbeitgebers aber fortbesteht."
Damit unterscheidet das BAG zwischen der sog. Warnfunktion und der Rüge- und Dokumentationsfunktion.
Die Warnfunktion betrifft (nur) die Frage, ob der Arbeitgeber vor Ausspruch einer verhaltensbedingten Kündigung den Arbeitnehmer - durch Ausspruch einer etwa erforderlichen Abmahnung - hinreichend gewarnt hatte. Diese Warnfunktion geht durch Zeitablauf durchaus verloren, wobei es keine festen zeitlichen Grenzen gibt, sondern vielmehr die Umstände des einzelnen Falles entscheiden.
Die Dokumentationsfunktion dagegen kann theoretisch, wenngleich "nicht zwangsläufig", ein ganzes Arbeitsleben anhalten und insoweit der Entfernung einer Abmahung aus der Personalakte entgegenstehen (Rdnr. 32):
"Gleichwohl besteht ein berechtigtes Interesse des Arbeitgebers an der
Dokumentation einer Pflichtverletzung nicht zwangsläufig für die gesamte Dauer
des Arbeitsverhältnisses. So kann ein hinreichend lange zurückliegender, nicht schwerwiegender und durch beanstandungsfreies Verhalten faktisch überholter Pflichtenverstoß seine Bedeutung für eine später erforderlich werdende Interessenabwägung gänzlich verlieren."
Und ein Arbeitgeber wird natürlich gerne argumentieren, dass nach der Rechtsprechung des BAG bei einem Kündigungsschutzverfahren im Rahmen einer Interessenabwägung zugunsten des Arbeitnehmers ein störungsfreier Verlauf des gesamten Arbeitsverhältnisses zu Buch schlagen würde, so dass der Arbeitgeber umgekehrt berechtigt sein müsse, dann eben auch etwaige Abmahnungen aus dem "gesamten" Arbeitsverhältnis zu dokumentieren.
Soweit nicht im Einzelfall besondere Regelungen über die Entfernung von Abmahnungen aus der Personalakte bestehen, wird man daher damit rechnen müssen, dass entsprechende Gerichtsverfahren in Zukunft härter geführt werden. Jedenfalls kann der bei einem durch zwei Instanzen geführten Prozess typischer Weise auftretende Zeitablauf nicht mehr gleichsam "automatisch" einen Entfernungsanspruch auslösen.
(Quelle: BAG, Urteil v. 19.07.2012, 2 AZR 782/11)
(Eingestellt von Rechtsanwalt MIchael Kügler, Fuldabrück-Bergshausen (LK Kassel))
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