EuGH, 26.01.2012 - C-586/10: Die "Kücük-Entscheidung" - Wende im deutschen Befristungsrecht
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hatte am 26.01.2012 über ein Vorabentscheidungsersuchen, eingereicht vom Bundesarbeitsgericht (BAG), zu entscheiden. Inhaltlich ging es in dem als "Kücük"-Entscheidung allgemeint bekannt gewordenen Urteil des EuGH in einem Rechtsstreit zwischen Frau Kücük und dem Land Nordrhein-Westfalen (NRW) über die Gültigkeit mehrerer, zwischen Frau Kücük und dem Land NRW geschlossener, befristeter Arbeitsverträge.
Frau Kücük war als Justizangestellte im Geschäftstellenbereich der Zivilprozessabteilung des Amtsgerichts Köln beschäftigt. Dem Arbeitsverhältnis lagen in der Zeit vom 2. Juli 1996 bis zum 31. Dezember 2007 insgesamt 13 befristete Arbeitsverträge zugrunde. Anlass der Befristung war jeweils die vorübergehende Beurlaubung einer unbefristet eingestellten Justizangestellten und der damit verbundene Vertretungsbedarf.
(Symbolbild)
Frau Kücük ging vom Bestehen eines unbefristeten Arbeitsverhältnisses aus und hatte beim Arbeitsgericht Köln gegen die (letzte) Befristung zum 31.12.2007 Entfristungsklage erhoben. Formaler Prozessgegenstand war also nur die letzte Befristung. Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht hatten die Klage abgewiesen; die Klägerin hatte Revision beim BAG eingelegt.
Die Parteien stritten vor allem über die Frage, ob § 14 Abs. 1 Nr. 3 TzBfG als Rechtsgrundlage für die streitgegenständliche Befristung in Betracht käme. Die Vorschrift lautet:
"(1) Die Befristung eines Arbeitsvertrages ist zulässig, wenn sie durch einen sachlichen Grund gerechtfertigt ist. Ein sachlicher Grund liegt insbesondere vor, wenn
...
3. der Arbeitnehmer zur Vertretung eines anderen Arbeitnehmers beschäftigt wird,
..."
Die Klägerin war der Meinung, dass bereits der Umstand, dass sie immer wieder befristet worden war, der Anwendung dieser Vorschrift entgegenstünde.
Das BAG, welches in der Vergangenheit dem Umstand der Kettenbefristung keine durchschlagende Bedeutung zugemessen hatte, sah sich indes veranlasst, dem EuGH diesbezüglich verschiedene Fragen vorzulegen, damit dieser über die europarechtliche Vereinbarkeit entscheiden konnte.
Hintergrund dieses Vorgehens bildete die Bestimmung des Art. 267 AEUV ("Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union"), die besagt:
"Artikel 267
Der Gerichtshof der Europäischen Union entscheidet im Wege der Vorabentscheidung
a) über die Auslegung der Verträge,
b) über die Gültigkeit und die Auslegung der Handlungen der Organe, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union.
Wird eine derartige Frage einem Gericht eines Mitgliedstaats gestellt und hält dieses Gericht eine Entscheidung darüber zum Erlass seines Urteils für erforderlich, so kann es diese Frage dem Gerichtshof zur Entscheidung vorlegen.
Wird eine derartige Frage in einem schwebenden Verfahren bei einem einzelstaatlichen Gericht gestellt, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, so ist dieses Gericht zur Anrufung des Gerichtshofs verpflichtet.
Wird eine derartige Frage in einem schwebenden Verfahren, das eine inhaftierte Person betrifft, bei einem einzelstaatlichen Gericht gestellt, so entscheidet der Gerichtshof innerhalb kürzester Zeit."
Der EuGH führt in seiner Entscheidung zunächst aus, dass der bloße Umstand mehrerer Befristungen noch keinen Rechtsmissbrauch darstellt:
"Aus dem bloßen Umstand, dass ein Bedarf an Vertretungskräften durch den Abschluss unbefristeter Verträge gedeckt werden könnte, folgt nicht, dass ein Arbeitgeber, der beschließt, auf befristete Verträge zurückzugreifen, um auf einen vorübergehenden Mangel an Arbeitskräften, mag dieser auch wiederholt oder sogar dauerhaft auftreten, zu reagieren, missbräuchlich handelt und gegen Paragraf 5 Nr. 1 der Rahmenvereinbarung über befristete Verträge und die nationale Regelung zu ihrer Umsetzung verstößt." (Rdnr. 50)
Allerdings verlangt der EuGH, dass Anzahl und Dauer der einzelnen Befristungen sehr wohl bei der Frage der rechtlichen Wirksamkeit der (letzten) Befristung mit zu berücksichtigen sind:
"Bei der Beurteilung der Frage, ob die Verlängerung befristeter Arbeitsverträge oder ‑verhältnisse durch einen solchen sachlichen Grund gerechtfertigt ist, müssen die Behörden der Mitgliedstaaten jedoch im Rahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeiten alle Umstände des Falles einschließlich der Zahl und der Gesamtdauer der in der Vergangenheit mit demselben Arbeitgeber geschlossenen befristeten Arbeitsverträge oder ‑verhältnisse berücksichtigen." (Rdnr. 56)
Und damit stellte sich der EuGH gegen die bisherige Rechtsprechung des BAG, die diesem Umstand keine Bedeutung zumessen wollte. Das BAG geriet somit in "Zugzwang".
Da es sich bei dem Vorabentscheidungsverfahren des Art. 267 AEUV nur um einen Zwischenstreit handelt, wurde vom EuGH nur die Vorlagefrage beantwortet; der Rechtsstreit selbst ging beim BAG weiter.
(Eingestellt von Rechtsanwalt Michael Kügler, Fuldabrück-Bergshausen (LK Kassel))