AG Kassel, 23.12.2015 - 381 OWi 315/15: Geschwindigkeitsverstoß und Akteneinsichtsrecht
Mit Beschluss vom 23.12.2015 entschied das Amtsgericht (AG) Kassel in einem Bußgeldverfahren wegen eines Geschwindigkeitsverstoßes, dass dem Verteidiger des Betroffenen das Recht auf Einsicht in die gesamte Messreihe einschließlich der entsprechenden Datensätze zustehe. Dies gelte auch dann, wenn sich diese nicht in der Akte, sondern bei der Bußgeldbehörde befänden.
Der Tenor der Entscheidung lautet:
"Dem Betroffenen ist über seinen Verteidiger Einsicht in die Messbildreihe der Geschwindigkeitsmessung am 03.07.2015 in Erbach, B 460, Höhe Rettungszufahrt Marbachstausee, durch Übersendung der Messbildreihe in Kopie auf einem von dem Verteidiger zur Verfügung zu stellenden Datenträger zu gewähren sowie - falls erforderlich - der dazugehörige öffentliche Schlüssel/Token zur Verfügung zu stellen."
Gegenstand des Verfahrens bildete ein mutmaßlicher Geschwindigkeitsverstoß vom 03.07.2015.
Der Bußgeldbescheid wurde am 21.09.2015 erlassen.
(Symbolbild)
Der Verteidiger hatte bereits unter dem 15.09.2015 nach erfolgter Akteneinsicht beantragt,
"ihm u. a. den vollständigen Messfilm zur Verfügung zu stellen."
Die Verwaltungsbehörde lehnte diesen Antrag ab.
Der Verteidiger wiederholte im Rahmen des Einspruchsschreiben vom 28.09.2015 seinen diesbezüglichen Antrag und bat weiter um Herbeiführung eines richterlichen Beschlusses gemäß § 62 OWiG.
§ 62 OWG lautet:
"(1) Gegen Anordnungen, Verfügungen und sonstige Maßnahmen, die von der Verwaltungsbehörde im Bußgeldverfahren getroffen werden, können der Betroffene und andere Personen, gegen die sich die Maßnahme richtet, gerichtliche Entscheidung beantragen. Dies gilt nicht für Maßnahmen, die nur zur Vorbereitung der Entscheidung, ob ein Bußgeldbescheid erlassen oder das Verfahren eingestellt wird, getroffen werden und keine selbständige Bedeutung haben.
(2) Über den Antrag entscheidet das nach § 68 zuständige Gericht. Die §§ 297 bis 300, 302, 306 bis 309 und 311a der Strafprozeßordnung sowie die Vorschriften der Strafprozeßordnung über die Auferlegung der Kosten des Beschwerdeverfahrens gelten sinngemäß. Die Entscheidung des Gerichts ist nicht anfechtbar, soweit das Gesetz nichts anderes bestimmt."
Das AG Kassel gab dem Verteidiger Recht:
"Gemäß § 46 I OWiG i.V.m. § 147 StPO hat der Verteidiger der Betroffenen ein Recht auf Akteneinsicht, das sich auf alle Akten, Aktenteile und weiteren Unterlagen oder Datenträger bezieht, auf die der Vorwurf in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht gestützt wird (Göhler, OWiG, 15. Aufl., § 60 Rn. 49), aus denen sich der Schuldvorwurf ergeben soll und die möglicherweise auch der Entlastung der Betroffenen dienen können.
Auch wenn der Messfilm nicht zur Akte genommen worden und damit nicht Aktenbestandteil im engeren Sinne ist, ergibt sich ein Einsichtsrecht aus dem Grundsatz des fairen Verfahrens ('fair trial'), vgl. nur AG Stuttgart, Beschl. v. vom 29.12.2011 - 16 OWi 3433/11; AG Cottbus, Beschl. v. 14.09.2012 - 83 OWi 1122/12; AG Ulm, Beschl. v. 21.02.13 - 5 OWi 45/13 - zitiert nach: Juris). Der Verteidiger hat einen Anspruch auf Einsicht in alle Unterlagen, die be- oder entlastend für den Betroffenen sein können und deshalb auch dem gerichtlichen Sachverständigen vorgelegt werden."
Der Verteidiger könne auch so zum Beispiel Auffälligkeiten der Messreihe erkennen:
"Soweit die Verwaltungsbehörde der Auffassung ist, dass bei einem 'standardisierten Messverfahren nicht ersichtlich sei, wozu die gesamte Messreihe benötigt werde', unterliegt sie einem Zirkelschluss. Die Einsicht in den gesamten Messfilm ist erforderlich, um beispielsweise Unregelmäßigkeiten bei der Dateneinblendung, eine hohe Anzahl verworfener Messungen oder sonstige Hinweise auf eine Fehlfunktion des Geschwindigkeitsmessgerätes oder eine fehlerhafte Inbetriebnahme oder Bedienung des Gerätes durch den Messbeamten erkennen zu können. Aus den Aufzeichnungen der gesamten Messung können Schlüsse auf die Messung gezogen werden, mit der der Vorwurf gegen die Betroffene begründet wird."
Die von der Verwaltungsbehörde geltend gemachten datenschutzrechtlichen Bedenken wurden zurückgewiesen:
"Schließlich stehen der Einsicht in den gesamten Messfilm auch keine datenschutzrechtlichen Gründe - namentlich der Persönlichkeitsschutz anderer abgebildeter Verkehrsteilnehmer - entgegen (so ausdrücklich auch AG Bergisch Gladbach, Beschl. v. 02.10.2015 - 48 OWi 355/15 (b); AG Fritzlar, Beschl. v. 07.10.2014 - 4 OWi 11/14, 04 OWi 11/14; AG Stuttgart, Beschl. v. 01.04.2014 - 11 OWi 575/14; AG Duderstadt, Beschluss vom 25.11.2013, 3 OWi 300/13; AG Cottbus, Beschl. v. 14.09.2012 - 83 OWi 1122/12; AG Senftenberg, Beschl. v. 26.04.2011 - 59 OWi 93/11; zitiert nach: Juris)."
Da das AG Kasel die Frage im Übrigen in der Rechtsprechung als geklärt ansah, fand es deutliche Worte in Richtung Verwaltungsbehörde. Diese habe die "bewusste Rechtsverweigerung" in Zukunft abzustellen:
"In diesem Zusammenhang kann sich die Verwaltungsbehörde insbesondere auch nicht - wie zuletzt in anderen Verfahren zu beobachten war - unter pauschale Berufung auf vermeintliche datenschutzrechtliche Erwägungen aus der Verantwortung ziehen und den Betroffenen schlicht darauf zu verweisen, zunächst ein kostenträchtiges gerichtliches Verfahren anzustrengen, um dann über das Gericht Einsicht in den Messfilm zu bekommen. Eine derartige Verwaltungspraxis führt vielfach zu einer vermeidbaren Anrufung des Gerichts und ist für den Betroffenen unzumutbar. Betrachtet man die Rechtsprechung zu der Frage, ob dem Verteidiger im Bußgeldverfahren wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung die Einsicht in den von der Geschwindigkeitsmessung vorliegenden Messfilm bzw. Messdateiserie zu gewähren ist, ist festzustellen, dass diese Frage im Sinne des Betroffenen als geklärt anzusehen ist (siehe nur OLG Oldenburg, Beschl. 06.05.2015 - 2 Ss (OWi) 65/15; AG Bergisch Gladbach, a.a.O.; AG Königs Wusterhausen, Beschl. v. 17.03.2015 - 2.4 OWi 282/14; AG Fritzlar, a.a.O.; AG Stuttgart, Beschl. v. 01.04.2014 - 11 OWi 575/14; AG Duderstadt, a.a.O.; AG Luckenwalde, Beschl. v. 07.10.2013 - 28 OWi 122/13; AG Ulm, a.a.O.; AG Schleiden, Beschl. 23.10.2012 - 13 OWi 140/12 (b); AG Cottbus, a.a.O. sowie Beschl. v. 17.06.2008 - 67 OWi 1611 Js-OWi 17966/08 (174/08); AG Stuttgart, Beschl. v. 29.12.2011 - 16 OWi 3433/11; AG Heidelberg, Beschl. v. 31.10.2011 - 3 OWi 510 Js 22198/11; AG Senftenberg, a.a.O.). Angesichts dessen grenzt die unzulässige Beschränkung der Verteidigung durch die Nichtherausgabe kompletter Messreihen durch die Verwaltungsbehörde an eine bewusste Rechtsverweigerung, die abzustellen ist."
(Quelle: AG Kassel, Beschluss v. 23.12.2015, 381 OWi 315/15)
(Eingestellt von Rechtsanwalt Michael Kügler, Fuldabrück-Bergshausen (LK Kassel))