BVerfG, 12.11.2020 - 2 BvR 1616/18: Zum Einsichtsrecht in Rohmessdaten im Bußgeldverfahren
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hatte in einem Beschluss vom 12.11.2020 über die Verfassungsbeschwerde eines Betroffenen im Bußgeldverfahren wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung zu entscheiden, die den Zugang zu Informationen betraf, die nicht Teil der Bußgeldakte waren..
Im entschiedenen Fall begehrte der Betroffene zunächst bei der Bußgeldstelle Einsicht insbesondere in die gesamte Verfahrensakte, die Lebensakte des Messgerätes, die Bedienungsanleitung des Herstellers, die Rohmessdaten der gegenständlichen Messung und in den Eichschein des verwendeten Messgerätes. Die Bußgeldstelle kam diesem Ersuchen teilweise nach. Inbsesondere die Rohmessdaten wurden aber nicht zugänglich gemacht, weil sie nicht Bestandteil der Ermittlungsakte seien.
Schließlich wurde ein Bußgeldbescheid erlassen, gegen den der Betroffene Einspruch einlegte und sein Einsichtsgesuch wiederholte. Ein Antrag auf gerichtliche Entscheidung wurde vom Amtsgericht (AG) verworfen.
In der Hauptverhandlung vor dem AG wurde ein Aussetzungsantrag nebst Antrag auf gerichtliche Entscheidung gestellt und erneut zurückgewiesen. Der Betroffenen wurde, ohne dass ihm Einsicht in die begehrten Unterlagen gewährt wurde, wegen Geschwindigkeitsüberschreitung außerhalb geschlossener Ortschaften um 30 km/h zu einer Geldbuße und einem einmonatigen Fahrverbot verurteilt.
Die Rechtsbeschwerde zum Oberlandesgericht (OLG) Bamberg blieb ebenfalls erfolglos.
(Symbolbild)
Der Betroffene erhob Verfassungsbeschwerde und rügte insbesondere eine Verletzung des aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG folgenden Rechts auf ein faires Verfahren.
Die Verfassungsbeschwerde war erfolgreich.
Das BVerfG führte zunächst aus, dass die von den Fachgerichten unter dem Stichwort des sog. standardisierten Messverfahrens durchgeführten Verfahrenserleichterungen in den Massenverfahren der Verkehrsordnungswidrigkeiten nicht zu beanstanden sein. Demnach dürfe sich das Amtsgericht bei der Anwendung standardisierter Messverfahren grundsätzlich mit der Mitteilung des eingesetzten Messverfahrens, der ermittelten Geschwindigkeit nach Abzug der Toleranz und des berücksichtigten Toleranzwertes begnügen. Anders sei dies allerdings dann, wenn der Betroffene konkrete Anhaltspunkte für technische Fehlfunktionen des Messgerätes vortrage.
Das Recht auf ein faires Verfahren gebe nun dem Betroffenen grundsätzlich auch im Ordnungswidrigkeitenverfahren das Recht, Kenntnis von solchen Vorgängen zu erlangen, die zum Zwecke der Ermittlung entstanden sind, aber nicht förmlicher Aktenbestandteil sind. Verlangt der Betroffene Zugang zu solchen Informationen, ist dieser zu gewähren. Das Recht auf Zugang zu diesen Informationen ist allerdings nicht unbegrenzt. Die Informationen müssen insbesondere in einem sachlichen und zeitlichen Zusammenahang mit dem jeweiligen Ordnungswidrigkeitenverfahren stehen und für die Verteidigung relevant sein. Der Betroffene muss die Informationen auch rechtzeitig begehren.
Wenn sich aus den eingeholten Informationen - was das Gericht ggf. unter Einschaltung eines Sachverständigen zu klären habe - keine hinreichend konkreten Anhaltspunkte für die Fehlerhaftigkeit des Messergebnisses ergeben, bleiben die Aufklärungs- und Feststellungspflichten nach den Grundsätzen des standardisierten Messverfahrens reduziert.
(Quelle: BVerfG, Beschluss v. 12.11.2020, 2 BvR 1616/18; Pressemitteilung Nr. 105/2020 vom 15.12.2020)
(Eingestellt von Rechtsanwalt Michael Kügler, Kassel)
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