OLG Jena, 17.03.2021 - 1 OLG 331 SsBs 23/20: Recht auf Zugang zur gesamten Messreihe bzw. Messserie
Das Thüringer Oberlandesgericht (OLG Jena) hatte sich in einem Beschluss vom 17.03.2021 mit der Reichweite des Rechts auf faire Verfahrensgestaltung im Bußgeldverfahren zu befassen. Das Gericht kam zum Ergebnis, dass dieses Recht dem Betroffenen bzw. seinem Verteidiger grundsätzlich einen Anspruch gegenüber der Bußgeldbehörde auf Zugang zu den bei ihr vorhandenen, nicht zur Akte gelangten Informationen, die aus Sicht des Betroffenen für die Beurteilung der Erfolgsaussichten seiner Verteidigung bedeutsam sein können, umfasst.
Bedeutsam für die Praxis ist hierbei insbesondere die weitere Schlussfolgerung, dass dieser Anspruch sich regelmäßig auch auf die am Messtag vom betreffenden Messgerät erzeugte Messreihe (Messserie) erstrecke.
Im entschiedenen Fall ging es um einen Verkehrsverstoß vom 28.02.2019 auf einer Bundesautobahn, der mit Bußgeldbescheid vom 03.06.2019 geahndet wurde. Dem - hinsichtlich seiner Fahrereigenschaft geständigen Betroffenen - wurde zur Last gelegt, als Fahrer eines PKW die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 120 km/h um (abzüglich eines Toleranzwerts von 6 km/h) 63 km/h überschritten zu haben.
(Symbolbild)
Die Messung erfolgt mittels eines Geschwindigkeitsmessgeräts vom Typ Poliscan M1 HP.
Der Betroffene hatte rechtzeitig und formgerecht Einspruch gegen den Bußgeldbescheid eingelegt und war durch Urteil des Amtsgerichts (AG) Gera vom 12.12.2019 wegen fahrlässiger Geschwindigkeitsüberschreitung zu einer Geldbuße von 440,00 € und einem Fahrverbot von zwei Monaten verurteilt worden.
Gegen dieses Urteil hatte der Betroffene rechtzeitig und formgerecht Rechtsbeschwerde einlegen lassen.
Gem § 80a Abs. 1, Abs. 3 S. 1 OWiG hatte die Einzelrichtern zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung die Entscheidung über die Rechtsbeschwerde auf den Bußgeldsenat in der Besetzung mit drei Richtern übertragen.
Das OLG hob das Urteil des AG auf und verwies die Sache zur erneuten Prüfung und Entscheidung an das AG zurück. Denn das OLG sah einen Verfahrensfehler.
So hatte die Verteidigung im Bußgeldverfahren vergeblich Zugang zur gesamten Messreihe bzw. Messserie begehrt:
"Nach dem i. S. v. § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO zulässigen, durch die Sachakte bestätigen Rügevorbringen hat die Verteidigung mit Schriftsatz vom 16.04.2019 gegenüber der Bußgeldbehörde die bis zu diesem Zeitpunkt gewährte Akteneinsicht als unvollständig beanstandet und vergeblich u. a. die noch ausstehende Überlassung der gesamten Messserie gefordert, das hierauf bezogene Einsichtsbegehren mit - durch Beschluss des Amtsgerichts Gera vom 25.06.2019 zurückgewiesenem - Antrag auf gerichtliche Entscheidung weiter verfolgt und ihren - mit einem Aussetzungsantrag verbundenen - Antrag auf Überlassung der Messreihe in der Hauptverhandlung vom 12. 12.2019 - wiederum erfolglos - wiederholt." (OLG, aaO., Rn. 16)
Diesem Begehren hätte entsprochen werden müssen:
"Die Kenntnis der dort zeitnah gewonnenen Messdaten, die sich nicht auf die ihm vorgeworfene Tat beziehen, verschafft dem Betroffenen eine breitere Grundlage für die Prüfung, ob im konkreten Fall tatsächlich ein standardisiertes Messverfahren ordnungsgemäß zur Anwendung gekommen ist und das Messgerät fehlerfrei funktioniert hat (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 22.07.2015, Az. IV-2 RBs 63/15; KG Berlin, Beschl. v. 05.12.2018, Az. 3 Ws (B) 266/18, bei juris), indem sie anhand der Daten, die im zeitlichen Zusammenhang mit seiner Messung an gleicher Stelle erhoben worden sind, die Suche nach Hinweisen auf etwaige Fehlfunktionen des Messgeräte oder Fehler bei der Durchführung eröffnet, die eventuell Rückschlüsse auf die Fehlerhaftigkeit auch der eigenen Messung erlauben (OLG Düsseldorf; a. a. O.). Dass ein die Messreihe insgesamt betreffender Fehler, der sich in anderen Dateien abbildet, aus der Messdatei des konkreten Verkehrsverstoßes ebenfalls hervorgehen müsste (so OLG Koblenz, a. a. O.), trifft in dieser Allgemeinheit nicht zu. Bestimmte Auffälligkeiten wie etwa fehlende Vollständigkeit der Aufnahmen, Unregelmäßigkeiten bei der Dateneinblendung, eine hohe Anzahl verworfener Messungen, Stellungs- oder Standortveränderungen des Messgerätes, stark abweichende Positionen mehrerer der aufgenommenen Fahrzeuge zur Fotolinie oder gehäuftes Auftreten unsinniger Messergebnisse sind für den Betroffenen bzw. einen von ihm beauftragten Sachverständigen nur durch Betrachtung aller Aufnahmen zu ermitteln (Cierniak, Prozessuale Anforderungen an den Nachweis von Verkehrsverstößen, zfs 2012, 664, 672). Ein dahingehendes, das Einsichtsgesuch legitimierendes Interesse hat der Betroffene jeweils vorgetragen." (OLG, aaO., Rn. 19)
Diem Einsichtsrecht lassen sich aus Sicht des OLG auch nicht die Interessen der übrigen, aus den Messdaten ersichtlichen Verkehrsteilnehmer entgegen halten.
(Eingestellt von Rechtsanwalt Michael Kügler, Kassel)
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